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Aktualisiert am 16. November 2020
Rosa Luxemburg
Brief aus dem Gefängnis an Sonia Liebknecht
Breslau (jetzt: Wrocław), Mitte Dezember 1917
[...]
„Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt. Auf den Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und -hemden, oft mit Blutflecken ..., die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt, statt mit Pferden mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz, mit großen, sanften schwarzen Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen ... Die Soldaten, die den Wagen fuhren, erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benutzen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis sie begreifen lernten, daß sie den Krieg verloren hatten und daß für sie das Wort gilt „vae victis“ [Wehe den Besiegten.] ... An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewohnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenutzt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde. – Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren. Die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstiels loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! ‚Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid', antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein ... Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete ... Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still, erschöpft, und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll ... Ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die schönen freien, saftiggrünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel, die man dort hörte, oder das melodische Rufen der Hirten. Und hier – diese fremde, schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen und – die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt ... Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und[stumpf] stumm und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. – Derweil tummelten sich die Gefangenen geschäftig um den Wagen, luden die schweren Säcke ab und schleppten sie ins Haus; der Soldat aber steckte beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den Hof, lächelte und pfiff leise einen Gassenhauer. Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei.
Rosa Luxemburg
Brief aus dem Gefängnis an Sonia Liebknecht
Breslau (jetzt: Wrocław), Mitte Dezember 1917
„Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt. Auf den Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit Säcken oder alten Soldatenröcken und -hemden, oft mit Blutflecken ..., die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen, bespannt, statt mit Pferden mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum erstenmal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz, mit großen, sanften schwarzen Augen. Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen ... Die Soldaten, die den Wagen fuhren, erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu fangen, und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum Lastdienst zu benutzen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis sie begreifen lernten, daß sie den Krieg verloren hatten und daß für sie das Wort gilt „vae victis“ [Wehe den Besiegten.] ... An hundert Stück der Tiere sollen in Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische Weide gewohnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos ausgenutzt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen, und gehen dabei rasch zugrunde. – Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken hereingefahren. Die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat, ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des Peitschenstiels loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! ‚Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid', antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch kräftiger ein ... Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg, aber eins blutete ... Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann beim Abladen ganz still, erschöpft, und eins, das, welches blutete, schaute dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den sanften schwarzen Augen wie ein verweintes Kind. Es war direkt der Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß, wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt entgehen soll ... Ich stand davor, und das Tier blickte mich an, mir rannen die Tränen herunter – es waren seine Tränen, man kann um den liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die schönen freien, saftiggrünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel, die man dort hörte, oder das melodische Rufen der Hirten. Und hier – diese fremde, schaurige Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende muffige Heu mit faulem Stroh gemischt, die fremden, furchtbaren Menschen und – die Schläge, das Blut, das aus der frischen Wunde rinnt ... Oh, mein armer Büffel, mein armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und
Schreiben Sie schnell, ich umarme Sie, Sonitschka.
Ihre Rosa
Sonjuscha, Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter. So ist das Leben, und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd - trotz alledem.
Fröhliche Weihnachten!
Rosa"
Alternative Quelle:
[...]
Es gibt (mindestens) zwei unterschiedliche veröffentlichte Versionen dieses Texts. Mir liegt der Originalbrief nicht vor. Die jetzt oben aufgeführte Version ist die aus den gesammelten Werken (Dietz Verlag; 17. Auflage von 2006; siehe Quelle unten). In der anderen Quelle (siehe Alternative Quelle unten) fehlen die oben gelb markierten Stellen und es heißt "saftigen grünen" statt "saftiggrünen" und "stumpf" statt "stumm" - diese "alternative" Quelle stammt von 1920 und ist eine gekürzte Ausgabe, enthält also nicht die kompletten Briefe. D. h. es ist gut möglich, dass die Stellen aus Versehen falsch abgeschrieben oder absichtlich geändert wurden. Ich habe beim Dietz Verlag angefragt, ob deren Version auf dem Originalbrief beruht, habe aber keine Antwort erhalten. Ich vermute (!), dass die jetzt oben zu sehende Version (Dietz Verlag-Version, 2006) zumindest inhaltlich der Originalversion sehr nahe kommt. Ich habe aber den Eindruck, dass auch diese Version nicht identisch mit der Originalversion ist, sondern grammatisch (Satzzeichen u. a.) "nachgebessert" wurde, obwohl das "daß" beibehalten wurde und obwohl auch nicht konsistent nachgebessert wurde. Eventuell gibt es auch verschiedene Dietz Verlag-Versionen in den verschiedenen Auflagen, die seit dem Jahr 1946 veröffentlicht wurden.
Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die Originalversion das Wort "Oh" enthielt (statt "O"). Es scheint also (meine Vermutung) die Dietz Verlag-Version (2006) dem Original inhaltlich näher zu sein, wobei die Version von 1920 dem Original grammatisch näher zu sein scheint.
Quelle:
Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. Berlin: Karl Dietz Verlag, 2006 (17. Auflage), Seite 101 bis 103. [Die erste Auflage scheint 1946 veröffentlicht worden zu sein.]
Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. Herausgegeben vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Jugendinternationale. Berlin: Verlag der Jugend-Internationale, 1920 (zweite unveränderte Auflage), Seite 37 und 38
Die Online-Version auf Marxists.org scheint die Version von 1920 zu sein, hat aber einige Tippfehler.
Die Online-Version auf Marxists.org scheint die Version von 1920 zu sein, hat aber einige Tippfehler.
Interessanterweise erwähnte Rosa Luxemburg die Büffel noch einmal in einem weiteren Brief, vom 12. Mai 1918, ebenfalls geschrieben aus dem Gefängnis in Breslau. Sie schrieb:
"[...]
Dabei kann ich nichts helfen, denn die Haubenlerchen sind sehr scheu[,] und wenn man ihnen Brot hinwirft, fliegen sie weg, nicht so wie die Tauben und Spatzen, die mir schon wie Hunde nachlaufen. Ich sage mir vergeblich, daß es lächerlich ist, daß ich ja nicht für alle hungrigen Haubenlerchen der Welt verantwortlich bin und nicht um alle geschlagenen Büffel - wie die, die hier täglich mit Säcken in den Hof kommen - weinen kann.
[...]"
(Quelle: siehe oben, Seite 117/118;
alternative Quelle: siehe oben, Seite 45)
Dieser Brief von Rosa Luxemburg wurde außerdem auch im Juli 1920 - d. h. vor der oben erwähnten zweiten Auflage von 1920 (in der es am Anfang des Buchs unter "Zur Einführung" heißt "Die Herausgeber" "Berlin, August 1920." - in dem Magazin des österreichischen Schriftstellers "Die Fackel" herausgegeben. Es müsste sich hier also um die gleiche Version handeln wie in der Version von 1920 (zweite Auflage), die ja gegenüber der ersten Auflage unverändert sein soll - die Online-Version hiervon ist aber zumindest von der Zeichensetzung her nicht zu 100 % mit der 1920-Version identisch.
Als Antwort auf den Brief wurde in "Die Fackel" (November 1920) ebenfalls ein Leserbrief und die dazugehörige Antwort von Karl Kraus abgedruckt.
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Zeichnung von Rosa Luxemburg (ohne Jahresangabe)
Aquarell von Rosa Luxemburg (ohne Jahresangabe)